Von Bienen und Böden
Blühende Wiesen, summende Bienen, klare Bäche, gesunde Böden, lebendige Städte: Was wie Tourismuswerbung klingt, könnte man vereinfacht als die Zukunftsvision der am 17.6.2024 vom EU-Rat beschlossenen „Verordnung über die Wiederherstellung der Natur“ (Renaturierungsverordnung) bezeichnen. Das Gesetz ist Teil des „Grünen Deals“ und der EU-Biodiversitätsstrategie und macht die dort gesetzten Ziele verbindlich.
Während der Prozess, welcher zur Zustimmung Österreichs trotz ursprünglich ablehnender Haltung der Bundesländer geführt hat, intensiv diskutiert wird, findet man in der medialen Berichterstattung nur selten eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Verordnung. Auch hier kann keine umfassende Analyse erfolgen, es wird aber ein Blick darauf geworfen, was die Renaturierungsverordnung mit Wohnbau und Stadtentwicklung zu tun haben könnte.
Grundsätzlich geht es in dem Gesetz um die Erhaltung und Wiederherstellung von gestörten Ökosystemen, damit diese weiterhin die für den Menschen lebensnotwendigen Leistungen erbringen können. Mit dem sperrigen Begriff „Ökosystemdienstleistungen“ sind alle messbaren Vorteile gemeint, die die Natur für uns Menschen erbringt: z.B. Ernährungssicherheit durch gute Böden und Bestäubung, Hochwasserschutz und CO2-Bindung durch Wälder, Kühlung und Luftfiltration durch Grünachsen und Flüsse uvm.
Um diese Leistungen der Natur langfristig zu bewahren, sieht das Gesetz drei Kernelemente vor:
• Flächenspezifische Ziele für die Verbesserung und Neuschaffung der besonders seltenen und hochwertigen Ökosysteme; mindestens 20% der Gesamtfläche soll bis 2030 derart geschützt und wiederhergestellt werden (Erweiterung Naturschutz).
• Indikatorbasierte Ziele für eine nachhaltigere Land- und Forstwirtschaft, für grünere Städte, frei fließende Flüsse und die Wiederherstellung von Bestäuberpopulationen.
• Die Erstellung von nationalen Wiederherstellungsplänen als zentrales Werkzeug zur Festlegung und Überprüfung der Maßnahmen.
Einen direkten Bezug zur Siedlungsentwicklung findet man v.a. in den Aussagen zu städtischen Ökosystemen. Diese machen rund 22% der EU-Gesamtfläche aus und sind Lebensraum für die Mehrheit der Menschen. In diesen Gebieten steht die Erhaltung und Erweiterung von innerstädtischen Grünflächen und des Baumbestands im Vordergrund, da diese u.a. für die Luftfiltration, die Vermeidung von Überhitzung und die Erholungswirkung für die Bevölkerung wesentlich sind.
In Artikel 8 der Verordnung wird folgendes gefordert:
• Kein Nettoverlust an Grünflächen und Baumüberschattung in städtischen Ökosystemgebieten ab Inkrafttreten der Verordnung. Ausnahmemöglichkeiten gibt es für Stadtgebiete mit sehr hohem Grünflächenanteil.
• Ab 2031 muss sowohl der Grünflächenanteil als auch die Baumüberschirmung in städtischen Ökosystemgebieten einen steigenden Trend aufweisen, unter anderem durch die „Integration städtischer Grünflächen in Gebäude und Infrastrukturen“ (z.B. Fassaden- und Dachbegrünung)
Diese Bestimmungen haben trotz ihrer Begründbarkeit das Potenzial, in einen Konflikt mit dem Ziel der Sicherung leistbaren Wohnbaus in städtischen Räumen zu geraten, v.a. dann, wenn sie zu einer (weiteren) Verknappung und Verteuerung von Grundstücken für den leistbaren Wohnbau führen. Allerdings gibt es Spielräume für die Mitgliedsstaaten, was die Abgrenzung der städtischen Ökosystemgebiete und die Begleitmaßnahmen betrifft – näheres dazu unten.
Ein neues Monitoringsystem für die Flächeninanspruchnahme in Österreich
In fachlichem Zusammenhang mit den Inhalten der EU-Renaturierungsverordnung stehen auch die Themen der Flächeninanspruchnahme und Bodenversiegelung.
Dazu liegt in Österreich nun ein neues, auf geographischen Daten basierendes Modell und ein Monitoringsystem vor, welches vom Umweltbundesamt im Auftrag der ÖROK entwickelt wurde. Die Hauptergebnisse der Landnutzung, Flächeninanspruchnahme und Bodenversiegelung für das Ausgangsjahr 2022 („Baseline“) werden parzellenscharf berechnet und können als Karten und in Tabellenformat auf Gemeindeebene betrachtet und hier heruntergeladen werden.
Als „in Anspruch genommene Flächen“ gelten Flächen, die durch menschliche Eingriffe für Siedlungs-, Verkehrs-, Freizeit-, Erholungs- und Ver- sowie Entsorgungszwecke verändert und/oder bebaut sind und damit für die land- und/oder forstwirtschaftliche Produktion und als natürlicher Lebens¬raum nicht mehr zur Verfügung stehen. Versiegelte Flächen sind eine Teilmenge der Flächeninanspruchnahme – es sind Flächen, die durchgehend mit einer wasser- und luftundurchlässigen Schicht abgedeckt sind.
Einige Ergebnisse:
• In Österreich wurden bisher (2022) 5.648 km2 in Anspruch genommen, das sind 6,7 % der Landesfläche bzw. 17,3 % des Dauersiedlungsraums. Knapp ein Drittel fällt auf Verkehrsflächen, knapp zwei Drittel auf Siedlungsflächen und ein Zehntel auf Freizeit- und Infrastrukturflächen. Pro Kopf werden 629 m2 Fläche in Anspruch genommen, dies unterscheidet sich erheblich nach Bundesländern von 127 m2/EW in Wien bis 1271 m2/EW im Burgenland. Unter dem Österreich-Durchschnitt liegen neben Wien die alpin geprägten Bundesländer Vorarlberg, Tirol und Salzburg.
• 52%, d.h. mehr als die Hälfte der in Anspruch genommenen Flächen sind versiegelt, das sind rund 3.000 km2 oder 330 m² pro Einwohner/in. Der Versiegelungsgrad ist in Wien am höchsten (62,5% der in Anspruch genommenen Fläche) und im Burgenland am niedrigsten (45,8%). Bei der versiegelten Fläche pro Kopf dreht sich das Bild um. Hier hat Wien den geringsten Wert mit 79 m²/EW. Die städtische Dichte und kompakte Siedlungsstruktur ergeben eine flächensparende Bodennutzung. Unter dem nationalen Durchschnitt liegen wiederum die westlichen, alpin geprägten Bundesländer Vorarlberg, Tirol und Salzburg. Eine überdurchschnittliche Versiegelung pro Kopf haben die Bundesländer mit flacherer Topographie und überwiegend ländlich geprägter Struktur: Spitzenreiter Burgenland (582 m2/EW), gefolgt von Niederösterreich und Kärnten.
Vorläufige Einschätzung aus Sicht der Wohnungswirtschaft
Zum Monitoringsystem für Flächeninanspruchnahme:
Mit dem neuen Monitoringsystem steht für Österreich erstmals ein umfassendes, auf geographischen Daten beruhendes Informationssystem zur Verfügung, welches zukünftig auch zeitnah Veränderungen der Flächeninanspruchnahme aufzeigen wird können und eine verbesserte Grundlage für raumbezogene Entscheidungen bietet. Ein Wermutstropfen ist jedoch, dass das Datenmodell nicht mit den nach bisheriger Methodik berechneten Daten zur Flächeninanspruchnahme kompatibel ist. Aussagen darüber, wie sich die jährliche Flächeninanspruchnahme in Österreich verändert, sind daher nur bis zum Jahr 2021 (nach alter Systematik) und ab dem Ausgangsjahr 2022 nach der neuen Methode möglich – letzteres auch erst ab 2025/2026, sobald mehrere Jahresdaten vorliegen.
Der nicht nur zu Europameisterschafts-Zeiten beliebte Vergleich des Flächenverbrauchs mit der Zahl der Fußballfelder (nach den „alten“ Daten waren es 2019-2021 rund 11,3 ha oder rund 15 – 18 Fußballfelder pro Tag) muss daher vorerst unterbleiben. Leider betrifft die Datenlücke genau den aktuellen Zeitraum, in welchem die Umsetzung u.a. der Renaturierungsverordnung ausgearbeitet wird.
Unverändert ist das Ziel gemäß Regierungsprogramm 2020-2024, dass die jährliche Flächeninanspruchnahme bis 2030 auf netto 2,5 ha pro Tag bzw. 9 km² pro Jahr sinken soll. Dies würde eine Reduktion um mehr als 75% gegenüber dem Wert von 2021 bedeuten und wird von manchen ExpertInnen als unrealistisch bzw. weniger faktenbasiert angesehen (vgl. hier und hier). Eine Bodenstrategie mit verbindlichen Zielwerten und Reduktionspfaden wurde bislang nicht beschlossen.
Zum EU-Renaturierungsgesetz:
Das EU-Renaturierungsgesetz ist ein europäisches Naturschutzgesetz und kein europäisches Raumordnungsgesetz. Daher erstaunt es nicht, dass in den Zielvorgaben dem Schutz der Natur und der Biodiversität ein klarer Vorrang eingeräumt wird und nicht wie in der Raumordnung üblich, für jeden Standort eine Interessensabwägung der unterschiedlichen Raumansprüche (Siedlungsentwicklung, Wirtschaft, Verkehr, Naturschutz) erfolgt.
Die fehlende Interessensabwägung könnte bei den Bestimmungen zum Schutz von städtischen Ökosystemen zu einem Zielkonflikt mit dem Ziel der Schaffung leistbaren Wohnraums führen.
Gerade der mehrgeschoßige, gemeinnützige Wohnbau ist der Prototyp einer ressourcenschonenden Wohnform, der jedenfalls weiterhin auch in Städten unter leistbaren Bedingungen realisierbar bleiben muss. Es ist kritisch zu sehen, dass das in Artikel 8 gesetzte Gebot des Netto-Nullverbrauchs von städtischen Grünräumen völlig unabhängig von lokalen Rahmenbedingungen wie Bevölkerungswachstum und Siedlungsdruck umzusetzen ist, was in wachsenden Städten die Verfügbarkeit von Grundstücken für leistbaren Wohnbau weiter einschränken könnte. Auch die unterschiedlichen Ausgangssituationen bzgl. der Ausstattung der Städte mit Grünräumen und Bäumen wird a priori ignoriert – immerhin ist in der Letztversion der Verordnung die Möglichkeit einer Ausnahmeregelung für besonders gut mit Grünflächen ausgestatteten Städte eingebracht worden.
Positiv ist zu vermerken, dass den Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung ein Spielraum zur Anpassung an nationale Rahmenbedingungen gegeben wird. Die Mitgliedsstaaten sind im Rahmen der Wiederherstellungspläne selbst für die genaue Abgrenzung der städtischen Ökosystemgebiete verantwortlich (Artikel 14 Absatz 4). Diese können ganze Städte und Vororte oder Teile davon umfassen, angrenzende Gemeinden oder Gemeindeteile können zu einem gemeinsamen Ökosystemgebiet zusammengefasst werden. Damit ist ein gewisser Planungsspielraum gegeben, innerhalb welcher Gebiete das Gebot der Erweiterung von Grünräumen und Baumüberschattung greift.
Weiters ist positiv zu beurteilen, dass bei dem angestrebten Ziel der Netto-Erhöhung von Grünflächen ab 2031 Begrünungsmaßnahmen an Gebäuden zum Teil mitberücksichtigt werden, da auf diese Weise Bebauung und Grünflächenerhöhung gleichzeitig ermöglicht werden kann.
Erfolgskritisch sowohl für die Biodiversitätsziele der Renaturierungsverordnung, als auch für eine nachhaltige und leistbare Siedlungsentwicklung wird daher u.a. sein, inwiefern es gelingt
• Erstens, in der nationalen Abgrenzung der städtischen Ökosystemgebiete komplementäre funktionale Zusammenhänge und den Bedarf nach leistbarem Wohnraum zu berücksichtigen, z.B. durch Zusammenfassung von Gebieten mit stärkerem und schwächerem Siedlungsdruck. Insbesondere wäre es kontraproduktiv, wenn aufgrund der Flächenkontingentierung innerhalb der Städte eine zusätzliche, flächen- und ressourcenintensivere Bebauung außerhalb der umfassten Gebiete ausgelöst wird.
• Zweitens, begleitende bodenpolitische Instrumente einzuführen bzw. anzuwenden, die eine klaren Vorrang für den mehrgeschoßigen, geförderten Wohnbau einräumen
• Drittens, Anreize für Synergien zwischen Siedlungsentwicklung und Biodiversität zu schaffen, z.B. Förderung der Umnutzung von baulichen Brachflächen, Fassaden- und Dachbegrünung, Zulassung verdichteter Bauformen und höherer Bauklassen in Verbindung mit der Erhaltung städtischer Freiflächen u.a.
Biodiversität und Stadtentwicklung – bei GBVs gelebte Praxis
Erfreulich ist, dass gemeinnützige Bauvereinigungen in Österreich die Verbindung von Biodiversität und Stadtentwicklung bereits heute häufig in die Tat umsetzen: In vielen Neubaugebieten sind Blühwiesen selbstverständlicher Teil der Freiraumplanung und sorgen für ein ökologisch hochwertiges, schönes und gesundes Lebensumfeld für Mensch und Tier.
„Natur im Garten“ lässt sich auch im gemeinschaftlich genutzten Garten größerer Wohnhausanlagen realisieren und stärkt dabei nicht nur die Biodiversität, sondern auch die Gemeinschaft. Diese Erfahrung konnten die BewohnerInnen der Grazer Waagner Biro-Straße bei einem Gartenprojekt, das durch den Bauträger (Wohnbaugruppe Ennstal) initiiert wurde, machen.
Auch Fassadenbegrünungen sind trotz des erhöhten Pflegeaufwands von Neubauprojekten verschiedener GBVs nicht mehr wegzudenken. Besonders umfassend ist die Idee der „renaturierten Stadt“ im Konzept der Biotope City durchdacht und in der „Biotope City Wien“ in weiten Teilen realisiert worden: Die Gebäude werden zur dritten Dimension der mit Blattgrün bedeckten Oberfläche, grüne und blaue Infrastruktur zieht sich durch die Siedlung, verschiedene Maßnahmen sorgen für eine Abkühlung der durchströmenden Luft.
Abschließend könnte man in Anlehnung an Begriffe der Energieplanung sagen: Die Biodiversität in der Stadtentwicklung zu respektieren bedeutet, von der Sichtweise des „geringstmöglichen ökologischen Schadens“ weiterzugehen in Richtung ökologischer und sozialer Mehr-Wert-Quartiere.
Autorin: Gerlinde Gutheil-Knopp-Kirchwald
Quellen und Verweise
EU-Renaturierungsverordnung
Finale Fassung der EU-Renaturierungsverordnung (Deutsch)
Informationen des Umweltbundesamts zur EU-Renaturierungsverordnung
Flächeninanspruchnahme in Österreich
Umweltbundesamt: Neue Methodik zur Ermittlung der Flächeninanspruchnahme und Bodenversiegelung in Österreich
Umweltbundesamt: Daten zur Flächeninanspruchnahme bis 2021
ÖROK-Monitoring von Flächeninanspruchnahme und Versiegelung
ÖROK-Atlas: Karten zur Flächeninanspruchnahme und Versiegelung in Österreich