Eine Stadt im Werden: Einblicke aus dem Besiedelungsmonitoring Seestadt Aspern
Die Seestadt Aspern ist derzeit das größte Stadtentwicklungsgebiet in Wien und eines der größten Projekte dieser Art in Europa: Bis 2028 sollen hier insgesamt 10.500 Wohnungen für rund 20.000 Menschen entstehen, darüber hinaus sind 20.000 Arbeitsplätze geplant. Ein Stadtentwicklungsprojekt dieser Größenordnung wirft auch in soziologischer Hinsicht viele Fragen auf: Welche Anforderungen und Ansprüche stellen die neuen Bewohnerinnen und Bewohner an ihr neues Wohnumfeld, das Quartier? Entsprechen die in der Planung entwickelten Konzepte von Wohnen, Nachbarschaft und öffentlichem Raum den Erwartungen der zuziehenden Menschen? Wer zieht überhaupt in die Seestadt, wie sozial durchmischt ist der Stadtteil? Wie formt sich aus dem Zuzug von Menschen – Alleinstehenden, Paaren, Familien – eine lebendige Nachbarschaft, ein neuer Stadtteil? Wie verzahnt sich der Stadtteil mit dem Rest der Stadt? Und welche unerwünschten sozialen und sozialräumlichen Spannungen und Konflikte können sich aufbauen und bewältigt werden?
Diese und viele andere Fragen stehen im Mittelpunkt eines mehrjährigen Forschungsprojekts, das seit 2015 in Kooperation des Instituts für Soziologie der Universität Wien, dem Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit der FH Campus Wien und dem Stadtteilmanagement Seestadt Aspern durchgeführt wird. Finanziert durch die Wohnbauforschung der Stadt Wien ist es das Ziel des Besiedlungsmonitorings Seestadt Aspern den Stadtteil in seinem Werden wissenschaftlich zu beobachten und zu begleiten. Nach einer ersten repräsentativen Befragung der neu zugezogenen Bewohnerinnen und Bewohner 2015 und einem Vergleich der Seestadt mit anderen Wiener Stadtentwicklungsgebieten 2017, ergänzt um eine Analyse der Freiräume und ihrer Nutzung, erfolgte 2019, im Zusammenhang mit einer neuen Besiedelungsphase, eine zweite Befragung der BewohnerInnenschaft. Was sind die relevantesten Ergebnisse der Forschung?
Die Seestadt Aspern, als ein über Jahrzehnte geplanter und in Form eines Public Private Partnership Projekts verwirklichter Stadtteil, durchläuft seit Beginn der Besiedlung 2014/2015 eine dynamische Entwicklung, die durch eine Gleichzeitigkeit von Bautätigkeit, Besiedelung, Nachbarschaftsbildung und Freiraumgestaltung geprägt ist. Schlüsselakteure auf institutioneller Ebene sind die Projektleitung Seestadt Aspern, die als Leit- und Koordinationsstelle fungiert, die Entwicklungsgesellschaft Wien 3420 AG, die für die Realisierung, Inwertsetzung und Besiedelung zuständig ist, sowie das Stadtteilmanagement als Anlaufstelle für Bewohner*innen.
Dem Projekt wird in mehrfacher Hinsicht ein Modellcharakter zugeschrieben, besonders in Bezug auf das Mobilitätsverhalten (Priorität des öffentlichen Verkehrs, Förderung von E-Mobilität und gemeinschaftlicher Nutzung von PKWs etc.), im Hinblick auf den Einsatz erneuerbarer Energien oder der Digitalisierung. Dies und die von prominenten Architekturbüros ausgearbeiteten Masterpläne (Tovatt Architects & Planners für das Gesamtkonzept, Jan Gehl für die Freiraumgestaltung) erzeugen vor allem unter den BewohnerInnen, die in der ersten Besiedelungsphase zugezogen sind, das Gefühl, in einem besonderen Stadtteil zu leben. Die Ergebnisse des Monitorings zeigen für sie eine konstant hohe Wohnzufriedenheit. Viele von ihnen sind an der Entwicklung der Seestadt interessiert und möchten sich in die Gestaltung der Seestadt einbringen; viele sind in eine der zahlreichen Nachbarschaftsinitiativen involviert, digital untereinander eng vernetzt und nehmen den Zusammenhalt in der neuen Nachbarschaft sehr positiv wahr. Insbesondere die Mitglieder der Baugruppen, welche in die Gestaltung ihrer Wohnbauten miteinbezogen waren, identifizieren sich stark mit dem Stadtteil. Später zuziehende BewohnerInnen sind zwar nicht so eng mit ihm verknüpft, teilen aber mehrheitlich das positive Bild: Eine große Mehrheit würde Freunden oder Bekannten die Seestadt als Wohnort empfehlen.
Seit Beginn des Monitorings fällt auf, dass sich die Bevölkerung weniger durch materielle als durch feinere soziokulturelle Unterschiede geprägt ist. Dass sich die BewohnerInnenschaft in unterschiedliche Milieus untergliedert, lässt sich an Aspekten wie das Mobilitätsverhalten (etwa Stellenwert des Autos), Wohnvorstellungen oder Auffassungen von Stadt und städtischem Leben (zwischen urbanem Dorf und lebendiger Vielfalt) festmachen. Verbindende (positive) Aspekte sind der hohe Freizeitwert, der See und allgemein die Grünlage, das ausgeprägte Sicherheitsempfinden. Das anfänglich kontrovers diskutierte Thema Parkplätze hat an Bedeutung eingebüßt, jenes der Nutzung des Sees durch Menschen, die nicht in der Seestadt wohnen, hingegen hinzugewonnen.
Stadthitze und Leistbarkeit des Wohnraums stellen im Spiegel des Monitorings wichtige Themen und Spannungsfelder des Seestadtlebens dar: In beiden Fällen drückt ein zu hohes Maß an subjektiv empfundener Belastung auf die Wohnzufriedenheit1.
Was das Thema Hitze betrifft, so beklagen deutlich mehr als Hälfte der Befragten eine große Hitzebelastung in der Wohnung und im Stadtteil. Die meisten Befragten suchen nach individuellen Lösungen (Lüften in der Nacht, Vorhänge am Tag, Ventilatoren), da andere Optionen (Außenrollos, Klimaanlagen) oft nicht möglich bzw. mit hohen Kosten verbunden sind.
In Bezug auf die Leistbarkeit des Wohnens gibt knapp die Hälfte der Befragten an, dass die Wohnkosten unangemessen hoch und sie sich dadurch belastet fühlen. Insgesamt liegen bei knapp der Hälfte der Befragten die Wohnkosten zum Teil deutlich über einem Drittel des Haushaltseinkommens. Neben Haushalten mit niedrigen Einkommen haben viele neu zugezogene Personen mit überdurchschnittlich hohen Wohnkosten zu kämpfen (wozu auch Kosten für Übersiedlung, Eigenmittelanteile, Wohnbaukredite etc. beitragen).
Mit der Fortschreibung des Stadtteils findet eine Transformation von einem suburbanen Wohngebiet in Grünlage hin zu einem zunehmend dichterverbauten multifunktionalen Stadtteil mit diversen NutzerInnengruppen und Bewohnermilieus statt. Das zeigt sich auch in den divergierenden Vorstellungen von Stadt seitens der BewohnerInnen. Ein Teil propagiert die Vorstellung einer offenen Stadt, während andere BewohnerInnen die Seestadt als geschlossene Stadt betrachten und auch eher abgeschlossen halten wollen.
Den Link zum Abschlussbericht finden Sie HIER
1 Insgesamt 341 Antworten, davon 319 von BewohnerInnen von geförderten Wohnungen inkl. Wohnbauinitiative, 22 BewohnerInnen von freifinanzierten Wohnungen)
AutorInnen: Univ.-Prof. Dr. Christoph Reinprecht und Univ.-Ass. Cornelia Dlabaja, MA, Institut für Soziologie, Universität Wien
©Cornelia Dlabaja