Wohnen in Europa – Bestandsaufnahme 2019
Im Oktober wurde in Brüssel unter Anwesenheit von Europäischen Parlamentarierinnen die dritte Neuauflage des Berichts „The State of Housing in the EU” präsentiert. Housing Europe, der europäische Dachverband der öffentlichen, genossenschaftlichen und sozialen Wohnbauträger, nimmt darin die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen rund um den Wohnungsmarkt in den verschiedenen EU-Staaten unter die Lupe und gibt einen europapolitischen Ausblick. Als Resümee für Österreich zeigt sich: Im europäischen Vergleich ist Österreich von den übergeordneten immobilienwirtschaftlichen Trends zwar auch nicht ausgenommen, insgesamt aber nimmt es eine Position ein, um die uns andere Länder beneiden (siehe Fazit unten).
Die europäische Wohnungskrise
Ein erster Befund ist, dass Wohnen in Europa noch immer in der Krise steckt. Angemessenes Wohnen ist für große Teile der Bevölkerung nicht oder nur eingeschränkt leistbar: Die Zahl der Haushalte in der EU, die durch Wohnkosten überbelastet sind, liegt bei über 10%. In Österreich ist der Anteil mit 7% aller Haushalte geringer. Eine Überbelastung liegt laut Eurostat dann vor, wenn ein Haushalt 40% oder mehr seines verfügbaren Einkommens fürs Wohnen ausgibt. Ganz besonders betroffen sind verständlicherweise armutsgefährdete Haushalte, von denen rund 40% mit Wohnkosten überbelastet sind. Dies trifft sowohl auf die EU, als auch auf Österreich zu. Was sich allerdings auch zeigt, ist, dass sich insbesondere private Mieterinnen und Mieter das Wohnen oft nicht mehr leisten können. In der EU sind mehr als ein Viertel (26%) aller Personen in privaten Mietverhältnissen wohnkostenüberbelastet. In Österreich sind es hingegen 16%. Private Mietverhältnisse sind im Vergleich zu anderen Rechtsformen auch jene, die über das letzte Jahrzehnt in der EU am stärksten zugenommen haben. Stellten private Mieterinnen und Mieter 2008 rund 12% aller Haushalte in der EU dar, so waren es 2017 bereits 20%. Im gleichen Zeitraum sank der Anteil der Haushalte in sozialen oder preisreduzierten Mietverhältnissen von 15 auf 11 Prozent.
Insgesamt gelten in der EU 156 Millionen Menschen als armutsgefährdet, wenn die Wohnkosten berücksichtigt werden – im Vergleich zu 85 Millionen vor Einbeziehung der Wohnkosten.
Die Rolle der Städte
Noch deutlicher als in der vorigen Ausgabe des Berichts (2017) wird 2019 die starke Betroffenheit, aber auch die Lösungskompetenz der Städte in Bezug auf die Wohnungskrise herausgestrichen.
Großstädtische Wohnungsmärkte geraten zunehmend in den Einfluss internationaler Finanzinvestoren, welche Wohngebäude als Anlageprodukt (Asset) erwerben. Dies hat mehrere Konsequenzen: Die Preise am Immobilienmarkt bilden nicht mehr in erster Linie regionale Faktoren ab, sondern orientieren sich an den Renditeerwartungen auf internationalen Anlagemärkten, was meist zu einer dynamischen Preisentwicklung führt. Diese schlägt sich auch auf die Mieten nieder. Immer häufiger wird auch ein weiteres Phänomen beobachtet: Wohnungen werden zunehmend nicht mehr in der Absicht erworben, sie zu vermieten und Mieterträge zu erzielen, sondern vielmehr, um sie leerstehen zu lassen. Hier steht ausschließlich die erwartete Wertsteigerung der Immobilie im Fokus der Investoren und nicht die bestimmungsgemäße Nutzung und Bewirtschaftung. Leerstehende Neubauten prägen bereits das Bild vieler Städte – von Paris wird sogar berichtet, dass 7% aller Wohnungen leerstehen und ein gutes Drittel davon nicht einmal ans Elektrizitätsnetz angeschlossen ist.
Neben dem spekulativen Leerstand führt auch ein weiterer Trend zur künstlichen Verknappung des (Miet-)wohnungsangebots in europäischen Städten: Die touristische Kurzzeitvermietung von Wohnungen. Diese hat insbesondere in innerstädtischen Lagen vieler Metropolen ein beträchtliches Ausmaß angenommen und setzt nicht nur die Hotellerie, sondern auch die Wohnungsmärkte unter Druck.
Wie reagieren Stadtregierungen in Europa auf diese Herausforderungen? „The State of Housing in the EU“ weist beispielhaft verschiedene Lösungsansätze auf:
• Verschärfte AirBnB Regulierung u.a. in Amsterdam, Barcelona, Paris, Berlin
• Flächenwidmung/Quoten für geförderten Wohnbau: Wien (Bauordnungsnovelle 2019), Barcelona, München
• Investitionsprogramme für sozialen Wohnbau in zahlreichen Städten
• Verschärfte Mietpreisregulierung in Dublin und mehreren deutschen Städten
• Housing First & Programme zur Beendigung der Wohnungslosigkeit z.B. in Helsinki und Brüssel
Quelle: The state of Housing in the EU 2019, S. 23. Die Prozentzahlen beziehen sich jeweils auf den Anteil an sozial gebundenen/gemeinnützigen Wohnungen am gesamten Wohnungsbestand.
Die Investitionslücke
Die Wohnungskrise ist mitunter auch ein Resultat einer wachsenden Investitionslücke, die sich aufgrund fehlender öffentlicher Investitionen in den leistbaren Wohnbau ergeben hat. Nun bekommen viele Länder und Regionen die Rechnung dafür präsentiert. Summiert man die gesamten öffentlichen Ausgaben für Wohnungsneubau in der EU auf, so zeigt sich ein Rückgang von rund 45% zwischen 2009 und 2017. Waren es 2009 noch insgesamt 48 Mrd Euro, die von den Staaten oder Regionen in der EU für Wohnbau (Objektförderung) ausgegeben wurden, so sank der Wert 2017 auf 26 Mrd Euro. Für die öffentliche Hand bedeutete dieser Rückgang aber keineswegs eine Ersparnis an Gesamtausgaben für Wohnen. Bezieht man nämlich in die Ausgaben auch die sozialen Transfers für Mietbeihilfen (Subjektförderung) ein, so lässt sich sogar ein Ansteigen der Wohnausgaben feststellen. Das hat zur Folge, dass immer weniger Geld in gemeinwirtschaftlichen Kreisläufen dem Neubau zugutekommt und gleichzeitig immer mehr Geld über Mieterinnen und Mieter an private Vermieter fließt, die damit in den seltensten Fällen Neubauinvestitionen tätigen.
Signale für eine Politik des leistbaren Wohnens aus der EU
Positiv konstatiert der Bericht eine deutlich steigende Aufmerksamkeit der internationalen und europäischen Politik1 in Bezug auf die soziale Dimension des Wohnens. So erschienen im letzten Jahr Hintergrundanalysen zu den Themen (mangelnde) Leistbarkeit und Investitionsbedarf für Wohnen in Europa u.a. von Institutionen wie dem Europarat, der Weltbank, der OECD und der UNECE.
In der europäischen Säule sozialer Rechte (2017) findet sich “Wohnraum und Hilfe für Wohnungslose“ als eine von 20 sozialpolitischen Grundsätzen der EU. Weiters hat die Städteagenda der EU in der Partnerschaft „Wohnen“ (unter dem Ko-Vorsitz der Stadt Wien) einen 12-Punkte-Aktionsplan für leistbares und qualitätsvolles Wohnen verabschiedet. Schließlich empfiehlt die Europäische Kommission im Rahmen des Europäischen Semesters (so heißt die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der EU-Länder) manchen Mitgliedsstaaten explizit eine Ankurbelung der Investitionen in leistbaren und sozialen Wohnbau als wirtschaftspolitische Maßnahme. Dazu zählen Deutschland und Irland, wo die Wohnungskrise vor allem in Städten besonders stark zu spüren ist.
Konkret umgesetzt werden könnten diese Bekenntnisse durch verbesserte Finanzierungsbedingungen. Die Europäische Investitionsbank (EIB) hat bereits ein Zeichen gesetzt - aktuell hat die EIB rd. 10 Mrd an Darlehen für den sozialen Wohnbau vergeben, und ihre Bedeutung für Investitionen in Neubau und Renovierung wird weiter steigen. Frankreich, Irland und Spanien haben innovative Finanzierungsprogramme für den sozialen Wohnbau unter Einbeziehung von EIB-Mitteln entwickelt.
22 Länder porträtiert
Der Bericht schließt mit einem übersichtlichen Länderprofil für jedes der 22 Housing-Europe-Mitgliedsländer, das nützliche Daten und Informationen zum Wohnungswesen des Landes bereithält. Wer beispielsweise wissen möchte, welche Stadt EU-weit den höchsten Anteil an sozialem/gemeinnützigem Wohnbau hat, der findet die Antwort im Österreich-Profil und in der obigen Abbildung. Es ist übrigens Linz mit einem Anteil von 54%.
Resümee für Österreich
In der europäischen Gegenüberstellung zeigt sich, dass zwar auch Österreich von den übergeordneten immobilienwirtschaftlichen Trends nicht ausgenommen ist, insgesamt aber eine Position einnimmt, um die uns andere Länder beneiden.
Besonders deutlich werden im europaweiten Vergleich die Vorteile einer langfristig ausgerichteten und gesellschaftlich breit getragenen Wohnungspolitik: Österreich hat unterdurchschnittliche staatliche Ausgaben für das Wohnungswesen und dabei einen überdurchschnittlichen Output an geförderten und leistbaren Wohnungen. Das Geschäftsmodell der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft in Kombination mit der Objektförderung führt zu Mieten, die 20-30% unter der Marktmiete liegen, und die Wohnbauleistung zählt zu den höchsten in Europa.
GBV-Obmann Bernd Rießland sieht es als Gebot der Stunde, die europäischen Finanzierungschancen für nachhaltige Wohnbauinvestitionen zu nützen, gerade in der aktuellen Niedrigzinsphase: So könnten nach Niederösterreich weitere Bundesländer EIB-Gelder für Investitionen in den Wohnbau akquirieren. Auch andere Modelle könnten als Anregung dienen, wie etwa die Schweizer Emissionszentrale für gemeinnützige Wohnbauträger (EGW), die sich mittels Anleiheausgaben am Kapitalmarkt günstige, durch Bundesgarantie gesicherte und langfristige Finanzierungen beschafft und an gemeinnützige Wohnbauträger weitergibt.
Gerlinde Gutheil-Knopp-Kirchwald & Gerald Kössl, GBV, wohnwirtschaftliches Referat
„The State of Housing in the EU” – Volltext des Berichts zum Download (EN)
1 Grundsätzlich ist das Wohnungswesen nationale Kompetenz, verschiedene EU-Kompetenzen haben aber Überschneidungsbereiche mit dem Wohnungswesen (näheres dazu hier)